“Ringelpiez mit Anfassen”
Vor ca. fünf Jahren hatte ich Liberating Structures mit einem Kollegen in einem Kontext einführen wollen, der uns beiden auf dem Herzen lag: in einem gemeinsam Teammeeting – leider einem typischen, drögen Weekly, bei der einige wenige auf unterschiedlichsten Flughöhen, in unterschiedlichstem Detailgrad, zu unterschiedlichsten Themen Dinge geteilt haben. Mal so knapp, dass die Information aufgrund der Fachfremde nicht nachvollziehbar war, mal in einer Detaillierung, die Korinthenkackern Freudentränen in die Augen pinseln würde. Eine typische Statusrunde eben mit etwa 40-60 Personen, von denen verteilt auf mehrere Wochen stets nur 5-10 Personen zu hören waren.

Mein Kollege und ich kamen gerade vom ersten Liberating Structures Global Gathering in Seattle und waren beeindruckt, was mit den dort 300 Teilnehmenden mithilfe von LS möglich war, wie schnell sich die ganze Gruppe vertraut und wohl gesonnen war, und dass es sich eben nicht nach anonymer, distanzierter, businessmäßiger Konferenz angefühlt hatte. Das wollten wir begeistert in dieses Meeting importieren.
Wir hatten die Idee, ein Experiment zu starten und für vier Wochen verschiedene Strings auszuprobieren, die es allen ermöglichen, etwas beizutragen. Wir wollten das Meeting befreien(*7), wie Keith McCandless sagen würde.
Dabei hielten wir uns in allen Varianten an die grob 15-30 Minuten, die das Meeting typischerweise in Anspruch nahm(*6). So spielten wir mit “Profanem”, wie einem 1-2-4-All(*4) mit der Frage „Was hast du die Woche erlebt, was hat dich begeistert?“(*8) und im All mit folgendem wertschätzenden Filter: “Was hast du gerade in deiner Vierergruppe gehört, von dem alle erfahren sollten? Was hat dich eben fasziniert?”, aber beispielsweise auch mit einem Caravan Consulting oder Varianten eines Troika Consulting. Wir hatten unseren Eindruck geteilt, dass wir die wertvolle gemeinsame Zeit besser nutzen wollen(*1) und unser temporäres Experiment zu Beginn erklärt: Vier Wochen, vier Experimente und danach eine gemeinsame Reflexion darüber, was uns hilft und wie wir anschließend mit unserem Teammeeting weitermachen sollen.
Uns ist aufgefallen, dass einige der vormaligen Vielredner dem Termin fortan fernblieben. Also suchten wir das direkte Gespräch. Das Feedback war frustrierend. Es schien, als ob andere, aber auch wir, LS vorab schon so verbrannt hatten – siehe v.a. „Das Wiederholungstäty“(*4) –, dass die Leute keine Lust mehr darauf hatten. Es wurde gar als Affront empfunden, das Teammeeting auf diese Art und Weise zu verändern.

Ich war geschockt, denn wir hatten nicht den Eindruck, einen Fehler begangen zu haben. Im Gegenteil, wir sind davon ausgegangen, alle behutsam zu einem zeitlich begrenzten, abgesteckten Versuch eingeladen zu haben. Dennoch: wir haben ca. 5-10% der Leute verloren. Auf dem Flurfunk hörten wir: „Bei diesem Ringelpietz mit Anfassen mach ich doch nicht mit!“
Damals musste ich die bittere Pille schlucken: Nicht jeder mag LS. Heute würde ich hinzufügen: und das ist auch erstmal normal und gut so.
Nicht alle mögen LS (von Beginn an)
Was war also passiert? Warum haben wir so harschen Widerstand erzeugt? Dazu zunächst einmal eine kurze Betrachtung, was LS bei manchen – je nach Naturell, Sicherheitsbedürfnis, Machtposition und v.a. Gewohnheit – erzeugen können (und welche grundlegende Bedürfnis dabei vielleicht bedroht wird).
- Kontrollverlust (Bedürfnis: Der Ergebnisverantwortung gerecht werden oder Geltung & Anerkennung)
LS bringen Menschen, die es gewohnt sind, Meetings zu kontrollieren und zu dominieren, um ihr gewohntes Mittel, Ergebnisse zu erzielen. In meiner Erfahrung gibt es praktisch in jedem Meeting oder zumindest in jedem Regeltermin mindestens eine solche Person. Diese Person ist auf einmal gleichgestellt und bekommt – gerade, wenn sich um eine Person mit Verantwortung mitsamt Druck von oben handelt – vielleicht sogar Angst, wenn sie nicht mehr die volle Kontrolle inne hat. Ich will an der Stelle Kontrolle und Dominanz nur bedingt werten, beides hat ihren Platz, beispielsweise, um unmittelbar auf Krisen zu reagieren. - Zwang (Bedürfnis: Sicherheit)
LS forcieren erstmal die Teilnahme aller. Das finden manche ungewohnt bis schlicht unangenehm. Auf einmal kann ich mich nicht mehr verstecken, zurückhalten, wie etwa bei einer offenen Diskussion. Es gibt in nahezu jeder Organisation Personen, die es sich schon jahrelang in dieser Rolle bequem gemacht haben. Vielleicht sind es Introvertierte, die länger brauchen, um zu Wort zu kommen oder denen es schwer fällt, vor einer Gruppe zu sprechen. Oder es sind Personen, die sich rausgezogen haben bis hin zur innerlichen Kündigung, die nur noch Dienst nach Vorschrift machen, oder einfach in ihrer Nische zufrieden sind und dann die anderen Termine schmerzbefreit und teilnahmslos über sich ergehen lassen. Und: manchmal möchte ich in diesem Moment einfach nur zuhören. - Anstrengung (Bedürfnis: Sicherheit, Ruhe)
Gleichzeitig ist die Art der einbindenden Interaktion eben auch anstrengend und fordernd. Ein halber Workshoptag mit LS bedeutet, etliche Gespräche in ständig wechselnden Kleingruppen zu führen, in der Regel viele kleine Entscheidungen treffen und ein paar ordentliche Kopfnüsse zu knacken. Und das alles in knapp bemessenen Zeitfenstern. Puh! - Ineffizienz (Bedürfnis: Verwirklichung)
LS dienen v.a. der sogenannten Sinnstiftung. Hier geht es um das individuelle und kollektive Aufdecken des Problemraums: Auffassen, Annehmen, Experimentieren, Reflektieren. LS lassen in Folge mehrere Sichtweisen, aber eben auch parallele Lösungen und Experimente zu. Perfekt also für ein komplexes Umfeld, bei dem wir die Lösung(en) Stück für Stück gemeinsam entdecken müssen. Für komplizierte Herausforderungen können LS ineffizient und umständlich sein, für einfache Herausforderungen sind sie es. Wenn eine Gruppe die eine richtige Lösung tatsächlich direkt analysieren, berechnen oder planen kann, dann macht der Weg der Sinnstiftung nur bedingt – nunja – Sinn. - Verwirrung (Bedürfnis: Zugehörigkeit, Sicherheit)
Die Ergebnisse einiger LS können auf den ersten Blick vage wirken. Eine Wicked Question etwa zieht ein Spannungsfeld aus widersprüchlichen Anforderungen auf, das total hilfreich ist, um das gemeinsame Vorgehen daran auszurichten und dafür zu sorgen, dass beide Seiten der Frage bedient und bedacht werden. Damit kommen wir weg von klaren, einfachen Lösungen – diese gibt es nicht für komplexe Herausforderungen. Das ist für viele erstmal total ungewohnt und auch verwirrend. Ein Spannungsfeld? Ich will doch lieber die eine, richtige Lösung finden!
Ich will an dieser Stelle nicht die Gegenargumente oder Kehrseiten dieser 5 Aspekte weiter ausführen, sondern die 5 Aspekte anerkennen. Denn auch hier findet sich mal wieder eine Wicked Question im Schema Integrated~Autonomous: Wie können wir Interaktionen pflegen, bei denen alle gleichermaßen beitragen können, um den Problemraum aufzudecken und eventuelle Lösungen zu entdecken (Integrated), und gleichzeitig die individuellen Bedürfnisse nach Ruhe, Anerkennung, Sicherheit und Zugehörigkeit des Einzelnen (Autonomous) berücksichtigen?
Optionen
In diesem Sinne liste ich hier einiger meiner Maßnahmen auf, die beide Pole der verzwickten Frage stärken können und so auf die Bedürfnisse der angestrengten, verwirrten, kontrollverlustierenden Personen eingehen.
- (Mini-)Debrief
Diese Empfehlung funktioniert eigentlich für alle 5 genannten Aspekte: Ein kurze individuelle oder kollektive Nachbesprechung, die die Gruppe oder einzelne in das Hilfemuster strukturelle Bewusstheit bringt: Wie hat uns die Interaktion gerade geholfen, was hat sie ermöglicht und was hat sie verhindert? So kann ich beispielsweise mit einer dominanten Person nach einem LS-Meeting gemeinsam reflektieren, was heute anders war. Ob es hilfreich war, auch aus ungewohnten Richtungen Ideen und Thesen zu ernten oder vielleicht auch nicht. Was dadurch für die ganze Gruppe möglich wurde. Was für die dominante Person möglich wurde. Und was für sie verhindert wurde. Um dann vielleicht gemeinsam herauszufinden, wie sich ihr Auftrag zur Ergebnisorientierung und -Verantwortung integrieren und berücksichtigen lässt. Und was die Person von der Gruppe braucht: What I Need From You? Und was noch viel wichtiger sein könnte: „Glaubst du, dass eher oktroyierte Maßnahmen und Ergebnisse von der Gruppe umgesetzt werden, oder solche, die die Gruppe gemeinsam und intrinsisch motiviert kreiert hat?“
Ein wenig umfassender hilft einer ganzen Gruppe auch ein What, So What, Now What?, gemeinsam auf der Metaebene über die Art der Interaktion zu reflektieren und zu entscheiden, wie sie (mit LS) weitermachen möchte. - Sichere Alternativen, längere Selbstreflexion
Um auch zurückhaltenden, introvertierten Personen eine sicheres Umfeld zu bieten, helfen LS natürlich grundsätzlich durch den steten Austausch zu Zweit und die Zeit zur individuellen Reflexion. Allerdings kann diese kurze Minute bei manchen Stress erzeugen: „Sei jetzt kreativ für 60 Sekunden, los!“ und gleichzeitig hat nicht jeder immer etwas beizutragen und nicht jede kann mit allen Fragestellungen etwas anfangen. Wenn dir das auffällt, verlängere die 1 Minute Selbstreflexion, frag nach, ob jemand noch ein wenig mehr Zeit braucht, aber weise v.a. darauf hin, dass es total in Ordnung ist, wenn einem nichts einfällt. Lade dazu ein, erstmal den anderen zu lauschen. Vielleicht kommt ja noch eine Ergänzung oder ein neuer Gedanke dazu. Biete außerdem sichere Alternativen bei verunsichernden Fragen an, wie etwa bei einem TRIZ in Schritt 2: „Was kommt dir bekannt vor, bei dir selbst?“ ergänzt um „Vielleicht nicht genau so, aber so ähnlich?“. - Auszeiten, Big Five einflechten, Wechsel von Laut und Leise
Biete außerdem Auszeiten an: „Die ständigen Gespräche sind anstrengend. Falls du einen Moment für stille Reflexion oder eine Pause brauchst, nimm sie dir und zieh dich aus den Kleingruppengesprächen für eine Weile raus. Das ist in Ordnung!“
Falls es Teilziele im Termin gibt, wo nicht alle direkt beteiligt zu werden brauchen, z. B. bei einer reinen Informationsverteilung durch eine Präsentation, oder zu Beginn eines Celebrity Interview oder einer (UX) Fishbowl, dann baue diese ruhigen Strecken geschickt in den Ablauf ein, um das Energielevel auszubalancieren. Lass also gesprächsintensive Stellen von frontalen oder stillen, reflektierenden Mikrostrukturen flankieren.
Das kannst du auch mit der Wahl der LS erreichen: Eine mustergültige Abfolge diesbezüglich ist Mad Tea Party (laut und schnell) und Spiral Journal (leise und behutsam). - Komplexität prüfen und anerkennen
Möglicherweise liegt gar keine komplexe Herausforderung vor und wir würden mit verzwickten LS-Kanonen auf einfache Spatzen schießen. So wie es auf keinen Fall Sinn macht, alles im Unternehmen agil anzugehen, macht auch die Sinnstiftung nur im Komplexen Sinn. Natürlich hilft es, choreographierende LS (1-2-4-All, Folding Spectogram, Troika Consulting, Celebrity Interview, etc.) zur Beteiligung aller auch in komplizierten Situationen zu verwenden. Manche Metaphern und Fragestellungen sind dann aber eventuell nicht passend und fühlen sich zu vage oder ineffizient an. Die Agreement-&-Certainty Matrix hilft, um gemeinsam festzustellen, in welcher Domäne sich die anstehende Herausforderung bewegt. - Gezielt verwirren
Die letzte Empfehlung ist bestimmt streitbar: Versuche, manche Einladungen (Aufgabenstellungen) gezielt mehrdeutig und vielleicht sogar leicht verwirrend zu formulieren. Damit erlaubst du der Gruppe, den Problemraum weit über deinen eigenen, durchaus beschränkten Horizont aufzudecken! Frechheit 🙂 Wir als Facilitatoren, also solche, die eigentlich nur den Rahmen für die Interaktion aufspannen sollten, üben Macht auf die Gruppe aus. Indem wir Methoden wählen und durch vieles mehr – siehe unser Workshop Macht und Struktur, aber eben auch durch die Wahl und Formulierung der Einladung. Wenn wir die Einladung klar und einfach gestalten, dann rauben wir der Gruppe Interpretationsspielraum, der so wichtig ist, um Divergenz zu ermöglichen.
Um den 5.Aspekt „Verwirrung“, dadurch nicht noch viel schlimmer zu machen, lade dazu ein, zu interpretieren, zu rätseln, einmal nicht zu wissen und zu verstehen, um was es geht. Rufe dazu auf, dich zu hinterfragen. Auch hier hilft ein Mini-Debrief im Anschluss oder eben ein offener Umgang mit dem Thema Klarheit, wie beispielsweise mit einem Folding Spectogram und der Skala: 1: Glasklar und Zielführend <-> 10: Verwirrend und Zeitverschwendung. Klarheit und Beschränkung kannst du dann immer noch ergänzen, wenn alle eine 10 gewählt haben.
Was nun, was tun?
Ich versuche Widerstände mittlerweile stets als einen Spiegel von etwas in mir zu sehen. Manchmal bin ich weiterhin ratlos oder fühle mich entgegen meiner guten Absichten gar vor den Kopf gestoßen. Aber manchmal erkenne ich den Anteil in mir, eines der u. g. Anti-Pattern, oder eben das Bedürfnis einer Person, das gerade nicht erfüllt wird. Und daran können wir beide dann wachsen und davon lernen.
Wie würde ich es also heute anders machen, bei besagtem Team-Meeting? Ich würde LS nicht mehr erwähnen, ich würde mehr sichere Möglichkeiten anbieten. Ich würde die Hinterbühne bearbeiten mit Mini-Debriefings. Kurzum: ich würde versuchen, auf die Bedürfnisse der Fernbleibenden zu achten. Ich würde aber mit der gleichen Begeisterung und Überzeugung versuchen, aus der drögen Statusrunde ein wertschöpfendes und verbindendes Zusammenkommen zu kreieren.
Anhang: Antipattern
Zum Abschluss teile ich noch ein paar typische Anti-Pattern bei der Anwendung mit Liberating Structures – d. h. übliche Verhaltensweisen, die die erfolgreiche Anwendung von LS sabotieren, à la TRIZ Schritt 1. Im folgenden Schritt 2 von TRIZ gestehe ich: Ja! Ich bin allen diese Verhaltensweisen mindestens einmal erlegen. Beispiele: Siehe Fußnoten im Text 🙂
*1Der Methodenfan: Zu viel Methodenmoderation: „Wir machen jetzt eine Liberating Structures, also eine befreiende Mikrostruktur, und die heißt 1-2-4-All . Das kommt daher, dass …“ anstatt: „Denkt kurz über … in Ruhe nach.“, „Sprecht einen Moment zu zweit darüber.“
*2Der Anti-Sinek: Zu wenig Methodenmoderation und v. a. fehlendes Why (Warum machen wir das jetzt?)
*3Die Sicherheitsliebende: Zu klare Einladungen formulieren, um vermeintlich schneller zur gemeinsamen Lösung zu kommen. Mehr dazu in unserem Workshop „Die Design-Masterclass“.
*4Das Wiederholungstäty: Jedes Meeting ausschließlich mit 1-2-4-All o. ä. strukturieren. Im obigen Beispiel übrigens ein wesentlicher Grund, der zur Abneigung gegen LS geführt hat, der uns genannt wurde. Einige litten förmlich unter einem Feuerwerk aus stetem 1-2-4-All in jedem Meeting bei einem unserer Kunden.
*5Der Schludrian: Keine passenden Methoden gewählt.
*6Die Gefangene: Methode anhand verfügbarer Zeit gewählt, anstatt passenden Ablauf überlegt und Zeit angepasst.
*7Das Ketzy: Alles bisherige ist falsch!
*8Das Einseity: Problemraum nur einseitig beleuchten.
*9Die Absolute: Nur noch LS!

Daniel Steinhöfer berät seit vielen Jahren Großunternehmen als Agile Coach und Trainer. Er sieht Liberating Structures als ideales Konzept, um im komplexen Umfeld zu wirken. Daniel hat die ersten europäischen Liberating Structures Immersion Workshops mit organisiert, gemeinsam mit Kolleg*innen das erste europäische Liberating Structures Learning Gathering ins Leben gerufen, und so geholfen, buchstäblich tausende Menschen mit Liberating Structures zu infizieren.